PRESSE

 

 

1.7.2016 Edition- Grafikmappe, 175. Jahre VBK

www.umdruck.at (Wiener onlinemagazin für Druckgrafik, mit Text von Volkhard Böhm)

 

VISIONEN MIT BODENHAFTUNG

Zur Eröffnung der Ausstellung „Ausblick : Gegenwart“ im Ratskeller Galerie für zeitgenössische Kunst,

Berlin-Lichtenberg am 8. November 2016

 

 

„Ausblick: Gegenwart“ – Wie in einem Spiel formuliert der Ausstellungstitel eine zweiseitige Begegnung. Hier treffen auf einander: Das Schauen und die Wirklichkeit. Der Doppelpunkt, der sie beide trennt, markiert einen Gegensatz. Er legt nahe, dass der Ausblick über die Gegenwart hinausführt. 

Den Ausblick verbinden wir allgemein mit einer großen Reichweite, einem Blick in die Ferne, der sich über die Kleinigkeit der Ebene erhebt und die Vorstellungskraft für das Große und Ganze eröffnet. Wir erwarten, dass der Ausblick Perspektiven für das Neue entwickelt oder Visionen einer noch ungedachten Zukunft aufzeigt. 

Demgegenüber steht die Gegenwart für das „Hier und Jetzt“. Sie ist in der Aktualität verankert, steht fest auf dem Boden, sie ist eine Realität und keine Fiktion. Einzig die Frage ihrer Dauer hängt vom Betrachterstandpunkt ab. Sinnig fragte ein Slogan an einer Giebelwand des Tacheles in der Oranienstraße: How long is now? Wie lange währt die Gegenwart? 

 

Doch wie mag das Spiel zwischen diesen beiden Seiten ausgehen? Wie lautet der Spielstand? Wer liegt vorn? Der Ausblick oder die Gegenwart? Kann es zwischen diesen beiden Parteien überhaupt Triumph und Niederlage geben? Ist ein visionärer Ausblick überhaupt ohne dessen Verankerung in der materiellen Gegenwart möglich? Entwickelte nicht Karl Marx aus der Analyse der Gegenwart und den Fakten der Vergangenheit seine Vision einer Zukunft? Oder kann der Traumtanz sich tatsächlich über die Wirklichkeit erheben und aus sich selbst heraus eine neue Vorstellung von Welt entwickeln? 

 

Der Kunst wird gerne eine visionäre Kraft zugesprochen. Auf die Bildende Kunst übertragen käme jedes einzelne Werk dem Blick in die berühmte Glaskugel gleich, das Bild als eine visuelle Prophezeiung. Demnach wären die Künstlerinnen und Künstler ideale Trendforscher, wären sie prädestiniert für die Zukunftsforschung, sollten sie auf alle Fälle in jeder Produktentwicklungsabteilung vertreten sein. In manchen Bereichen mag das sicherlich stimmen, folgt den einst geheimen Künstler-Pfaden doch bald die Karawane des gewöhnlichen Konsums, oder gelten doch in der Stadtentwicklung Künstler häufig als Vorboten der Aufwertung ganzer Stadtquartiere, eine Entwicklung, die auch gerne „Gentrifizierung“ (gentrification) genannt wird. 

 

Die Metapher vom Blick in die berühmte Glaskugel geht aber an der Realität etwas vorbei. Vielmehr wählt die Kunst ein Motiv aus, richtet den Blick auf etwas Bestimmtes, was zukunftsweisend sein kann. Es ist die Kunst der Auswahl, das Fokussieren, das in der Gegenwart eine zukünftige Bedeutung erkennt. 

 

Die visionäre Kraft der Kunst im Allgemeinen und der Bildenden Kunst im besonderen Fall braucht sich dabei nicht allzu sehr zu erheben, muss die Bodenhaftung nicht unbedingt verlieren. Denn wie kann der Ausblick auf das Kommende möglich sein, ohne die manifeste Gegenwart zu kennen? Die Zukunft ist der Gegenwart förmlich eingebettet. Mit unserer alltäglichen Arbeit gestalten wir die Grundlage für die Zukunft.

 

Diese besondere, wechselseitige Beziehung zwischen Vision und Wirklichkeit nimmt sich die heute hier zu eröffnende Ausstellung zum Thema. Sie schaut auf die Wirklichkeit, um eine Vorstellung von künftigen Perspektiven zu entwickeln. Die an dieser Ausstellung beteiligten drei Künstlerinnen und vier Künstler richten ihren Blick auf das konkrete Lebensumfeld der Stadt Berlin. Auf dem Straßenpflaster dieser Stadt formulieren sich die künftigen Herausforderungen sehr konkret. In realistischer und metaphorischer Ausarbeitung beschreiben die heute präsentierten Künstlerinnen und Künstler einen sehr eigenen Ausblick auf die künftigen Gegenwarten. So entpuppt sich der Ausblick gleichzeitig als ein vielfältiger und beeindruckender Einblick in unsere Gegenwart. 

 

Welche Einblicke gewährt uns die Ausstellung? 

Es geht um Konkretes und um Allgemeines. Es geht um Reales und um Irreales, das Wirkliche und das Unwirkliche sind ineinander verwoben und gestalten das aktuelle Antlitz unserer Zeit.

 

Welchen Welten begegnen wir in den Werken der Ausgestellten?

 

CLAUDIA HARTWIG führt uns in die elementaren Prozesse des Lebens ein und in das Werden von Materie. Der künstlerische Arbeitsprozess fällt dabei in eins mit der Darstellung des Lebens und ist ein integraler Bestandteil des permanenten Werdungsprozesses. Das Entstehen von Leben kommt dabei der Schaffung des Bildes gleich.

 

Michael Otto unternimmt in seinen Werken eine kritische Vermessung der Welt. Dabei geht es um die Nutzung des Stadtraums, das Versprechen von Stadt, die häufige Hinfälligkeit großer Visionen, also um die krassen Gegensätze von Anspruch und Wirklichkeit.

 

Andrea Streit betrachtet in ihren Werken die Menschen der Stadt. Sie blickt auf die Passanten, die den Stadtraum bevölkern, und fängt das Verhalten und die Bewegungen im öffentlichen Raum ein.

 

Hans Stein richtet seinen Blick auf die Veränderungsprozesse der Stadt. Es geht um das Verhältnis von Stadt, Raum und Architektur. Proportionen und Diskrepanzen spielen dabei eine Rolle. Auch hier ist es immer wieder das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit, etwa der Großstadtbahnhof, der sich in ödem Brachland verliert und seinen gebauten Metropolenanspruch nicht erfüllen kann.

 

Michael Augustinski fragt nach der Rolle der Kunst in der Wirklichkeit der Gegenwart. In der Musik, im Tanz oder in der Akrobatik des Zirkus eröffnet sich eine Gegenwelt. Die Sphäre der gelebten Kunst wird zu einem Traumbild und Sehnsuchtsziel der von den materiellen Bedingungen der Gegenwart Geplagten. 

 

Peter Schlangenbader erlebt die Themen seiner Kunstwerke förmlich subjektiv und emotional. Die großen und auch die kleinen Gefühle, sogar auch die Themen der internationalen Politik, werden von seinem Malstrom impulsiv gesetzter Farbe erfasst und fließen förmlich aus seinem Denken und Fühlen heraus auf die Bildfläche. 

 

Bei Tine Schumann schließlich sieht sich der Betrachter essentiellen gesellschaftlichen Fragen gegenübergestellt. In surrealen Begegnungen von Tier und Mensch werden Gefühle von Angst und Unsicherheit angesprochen, werden Konflikte ausgetragen, wird die Bändigung von scheinbar unfassbaren Naturkräften zum Sinnbild für Überwachung und Kontrollwahn. 

 

Diese hier kurz zusammen gefassten Werkbeschreibungen zeigen, wie sehr die beteiligten Künstlerinnen und Künstler in ihrer Gegenwart verwurzelt sind und aus dieser Gegenwart, die Ideen und Vorstellungen von einem Ausblick auf Künftiges entwickeln. Damit geben ihre Werke eine mögliche Vorstellung von dem, was kommen kann, was eine Rolle in unserem Leben spielen kann, welche Herausforderungen sich heute und auch künftig stellen werden?

 

Die hier und heute ausgestellten Künstlerinnen und Künstler stehen mitten im Kunstschaffen, vielfach auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Laufbahn und können teilweise bereits auf ein umfangreiches Werk zurückschauen, was vor allem für Hans Stein, Michael Otto, Michael Augustinski und Peter Schlangenbader gilt.  

 

Damit führt die Ausstellung mitten in die aktuellen Schaffensfragen der in Berlin lebenden professionellen Künstlerinnen und Künstler hinein. Als eine Gruppenausstellung, an der insgesamt sieben Künstlerpersönlichkeiten beteiligt sind, bietet die Ausstellung einen Überblick über die zeitgenössische Malerei und Grafik. So zeigt die Ausstellung überwiegend neueste Werke, die in den letzten drei oder vier Jahren entstanden sind. Wenige ebenfalls ausgestellte ältere Werke werden von ihren Künstlern als weiterhin außerordentlich aktuell angesehen, beispielsweise das „Seelenschiff" von CLAUDIA HARTWIG aus dem Jahr 2008, dessen Farbwahl, Materialität und Konstruktion die Künstlerin in einer Verbindung zu der derzeitigen Migrationstragödie auf dem Mittelmeer sehen möchte. 

 

Martin Schönfeld 

 

 

 

 

 

 

 

DYNAMIK BERNAU – DIE POESIE DES ALLTÄGLICHEN – so lautet der Titel der heute eröffneten Ausstellung, die das beeindruckende Ergebnis einer intensiven und spannungs-vollen Begegnung dreier Künstler/-innen aus Berlin mit dem Ort Bernau ist.

 

CLAUDIA HARTWIG, Helga Ntephe und Jens Reulecke haben sich von den Ambivalenzen dieses Ortes zwischen Geschichte und Gegenwart inspirieren lassen, sich mit seinen historischen Spuren, seinem Stadtbild und seiner Architektur auseinandergesetzt und ein gemeinsames Ausstellungskonzept erarbeitet. Die ausgestellten Objekte, Fotografien und Bilder sind eigens für diese Ausstellung entstanden.

Das Nebeneinander von Altem und Neuen, die Spurensuche, das Unerwartete und Gegensätzliche sind die thematischen Pole, um die sich all diese Arbeiten bewegen. Anknüpfungspunkte für ihre Entstehung sind die Bernauer Stadtmauer, die Totenkronen der St. Marienkirche sowie architektonische und urbane Momentaufnahmen. All dies haben die Künstler mit ihrer unzähmbaren Neugier und ihrer besonderen Wahrnehmungsfähigkeit in ihrer Kunst umgesetzt und gewähren uns nun Einblicke in ihre Sichtweisen auf den Ort Bernau. 

Trotz der Verschiedenartigkeit, mit der sich alle drei Künstler mit dem Ausstellungsthema auseinandergesetzt haben, verbinden sich die Objekte, Bilder und Fotografien in diesen Räumen zu einem Gesamtkunstwerk, das die Balance zwischen der Eigenständigkeit der jeweiligen Arbeiten und ihrer Symbiose hält und uns hierdurch in seinen Bann zieht. 

In einen dynamischen Dialog sind die hier ausstellenden Künstler also nicht nur mit der Stadt Bernau getreten, sondern – ohne dies vorher geplant zu haben – auch miteinander.

 

CLAUDIA HARTWIG, die sich überwiegend der Objektkunst widmet, begreift ihre künstlerische Arbeit als Prozess der Beseelung von Materialien, bei dem sie dem innersten Wesen der Dinge nachspürt. Ihre Objekte sind sinnlich und tiefgründig und regen zu Gedankenreisen an.  

 

Von CLAUDIA HARTWIG ist das raumgreifende, von der Stadtmauer inspirierte Objekt mit dem Titel ‚Reservat, aufgefüllt mit Zeit‘ zu sehen. Ein Reservat hat etwas Ausgrenzendes, aber auch Beschützendes und ist hier als „Aufbewahrungsort der Erinnerungen“ gedacht, der hermetisch, an einigen Stellen aber auch durchlässig ist. Die archaische Kraft, die von dieser massiven, aus einem Drahtgeflecht bestehenden Skulptur ausgeht, entsteht vor allem durch die Farbintensität der eingefärbten Jute, mit der die Künstlerin den Draht in einem langen, intuitiv gesteuerten Arbeitsprozess umhüllt. 

 

Erstmals seit ihrer Arbeit an der Objektreihe „Seelenschiffe“, von deren Formsprache das hier ausgestellte Objekt beeinflusst ist, nutzt CLAUDIA HARTWIG das Potenzial des Abdrucks einzelner Stofffragmente – das sind die im mittleren Raum ausgestellten Papierarbeiten. 

 

Als eine Art Negativ dokumentiert jeder Abdruck die Entstehung des Objekts und spiegelt gleichsam dessen Existenz wider. Unabhängig von dieser Referenz führen die Papierarbeiten in ihrer nuancenreichen Farbstruktur ein Eigenleben als Bild. Spürbar ist dennoch ein zarter, fast geheimer Dialog zwischen dem in den Raum fließenden Objekt und den lasierten Abdrucken.

Die drei kleineren Objekte mit ebenso poetischen Titeln (‚Verabredung zweier Welten‘/ ‚Krönchen geflochten aus Träumen‘/‘Loblied der Wunder‘) sind von den Bernauer Totenkronen inspiriert, die 2004 von der Kunsthistorikerin Sylvia Müller entdeckt wurden und seit 2008 wieder in der Marienkirche zu sehen sind. Es handelt sich um Relikte eines Bestattungsrituals für unverheiratet Gestorbene, das im 18. und 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Die farbenfrohen, aus Blumen und Schleifen bestehenden Kronen wurden den Toten als Ersatz für die im Leben nicht getragene Brautkrone mit ins Grab gegeben oder im Kirchenraum angebracht.

Die Aura dieser Kronen, von denen jede die Geschichte eines meist früh zu Ende gegangenen Leben erzählt, hat CLAUDIA HARTWIG zu fragileren, drahtlosen Objekten inspiriert, die von den Möglichkeiten und Hindernissen des Lebens handeln. Die drei aus grobmaschiger, ziegelrot gefärbter Jute geformten Objekte lassen eine zunehmende Reduzierung bis zur scheinbaren Auflösung erkennen. Sie sind Spiegel des Innenlebens, ihre Windungen sind mal verschlossener, mal gewähren sie Einblicke, wenn man aus nächster Nähe das Zusammenspiel von Form, Material und Farbe auf sich wirken lässt…                     

 

Auszug aus der Rede von Dr. Ariane Mhamood

 

 

 

 

 

 

 

 

CLAUDIA HARTWIG widmet sich in ihrer künstlerischen Arbeit dem Objektbau und der Malerei, und in ihren Drahtbildern verbindet sie gelegentlich beides miteinander. Ihr Studium der Bildenden Kunst an der Hochschule der Künste in Berlin von 1994 bis 2001 setzte die zweijährige Ausbildung an der Kunstakademie in Dresden (1982-84) fort, wo die in Berlin lebende Künstlerin 1967 geboren wurde. Ihr künstlerisches und philosophisches Thema ist das ‘Bild des Menschen als Metapher’, wobei sie schon früh durch die, wie sie selbst sagt, ‘lebenswarmen’ Bilder Edvard Munchs beeinflusst wurde. Wie Munch es vermochte, das Innerste des Menschen abzubilden, ist auch für CLAUDIA HARTWIG die ‘Suche nach dem Wesen der Dinge’ impulsgebend für ihre Arbeit. Munchs Ästhetik der verbildlichten Psyche ergänzt sie in ihrer Kunst um den Aspekt der weiblichen Kraft und Emotionalität. 

 

Ihre Arbeiten stellt CLAUDIA HARTWIG seit Mitte der 90er Jahre im In- und Ausland aus, wobei ihr Wirkungszentrum Berlin ist. Ihr Schöneberger Atelier ist eine Landschaft aus Objekten, Bildern, Skulpturen und Relikten. Letztere findet die Künstlerin auf ihren Wegen durch die Stadt - Gegenstände, die niemand mehr braucht, seien es alte Werkzeuge, Mistgabeln oder Drahtgeflechte. Von deren ‘symbolischer Qualität’ und artefaktischen Aura lässt sich CLAUDIA HARTWIG inspirieren und gibt ihnen ein neues Leben in ihrer Kunst. In der Reihe ‘Seelenschiffe’ setzt sie sich mit dem Thema der menschlichen Grundbefindlichkeiten auseinander und baut Geflechte aus Metalldraht, die mit eigens eingefärbter, tief weinroter Jute umwoben werden, wodurch tiefgründige und zugleich sinnliche Objekte entstehen, die von der Symbiose des spröden Metalldrahts mit dem archaisch wirkenden Jutegewebe leben. Dabei lässt die Künstlerin durch einen spezifischen Verarbeitungsprozess die Beschaffenheit des Gewebes sichtbar werden lassen, das metaphorisch für die ‚aus Bildern der Vergangenheit gewebte’ menschliche Identität steht. Der nachhaltige Eindruck, den die ‘Seelenschiffe’ beim Betrachter hinterlassen, entsteht durch die von ihnen ausgehende Ambivalenz von emotionaler Kraft und seelischer Fragilität, Archaik und Sinnlichkeit – eine poetische und dabei weibliche Kraft, die auch ihre gemalten ‚Seelenschiffe’ ausstrahlen.   

 

Das Schiff als Metapher für den Weg durch das Leben steht auch für den Aufbruch zu neuen, unbekannten Ufern, als Wagnis ohne Gewissheit, ob das Ziel erreicht wird, wenn es eins gibt. In ihrer künstlerischen Arbeit führte ein solcher Aufbruch zu einer neuen Thematik: es geht um Wandel und Veränderung, um den unaufhaltsamen Fluss des Lebens und schließlich um das Leben als Balanceakt. Hierbei brach Claudia Hartwig, inspiriert durch eine Reise ins farbenfrohe Peru, auch zu mehr Leichtigkeit in ihrer Kunst auf, ihre Farbgebungen gewannen mehr Facetten, und die Titel ihrer Arbeiten wurden zunehmend poetischer. In Objekten, wie ‚Träumen vom Keimen’, zeigt sich zudem der spielerische Aspekt ihrer Kunst und die Freude an spontanen Effekten, die durch das Zusammenspiel der Materialien entstehen. So gesteht die Künstlerin ihren Objekten ein Eigenleben zu, das diese jenseits ihres Geschaffenseins führen – ein Geben und Nehmen zwischen Kunst und Künstlerin.

 

CLAUDIA HARTWIGS Kunst lebt von der Kraft der Imagination als einer schwer fassbaren, aus innerer Erfahrung gewonnen schöpferischen Fähigkeit, durch die ihre Objekte und Bilder eine – ebenso schwer beschreibbare sinnliche Entrückung verkörpern, die die Seele berührt.

   

Dr. Ariane Mhamood

 

 

 

 

 

 

 

 

In den Skulpturen von CLAUDIA HARTWIG findet sich schon rein auf stofflicher Basis eine konsequente Umsetzung des Themas „Roter Faden“. Ihre „Seelenschiffe“ oder auch die weiterführenden Arbeiten „ohne Titel“ sind alle aus dunkelrotem Grobleinen gefertigt, ein Material, in dem sich deutlich die einzelnen Fäden erkennen lassen. Schicksalsfäden könnte man meinen, aus denen das Leben der Menschen gewebt wird.

Der Stoff, mit dem Maler ihre Leinwände bespannen, die Matrix ihres schöpferischen Ausdrucks, wird von CLAUDIA HARTWIG in verschieden große Teile zerrissen. Die blutrote Farbe erzielt sie nicht über Färbung des Stoffes, sondern durch Behandlung mit einer Holzbeize. Diese Bearbeitung des Stoffes entwickelte sie übrigens, als sie eine Serie über mythische Göttinnen anfertigte, die mit goldenen Baumkronen ausgestattet, allesamt in dieser dunkelroten Jute gewickelt waren. 

 

Auf den Titel ihrer Serie „Seelenschiff“ kam CLAUDIA HARTWIG, als sie anfing sich mit Geisterschiffen auseinanderzusetzen. Seelenschiff erschien ihr für das, was sie mit ihren Skulpturen kommunizieren will, noch reiner und klar gefasster im Ausdruck. Vor allem die früheren Arbeiten lehnen nicht selten an die Form eines Schiffes oder Bootes an. Die Drähte, die CLAUDIA HARTWIG auf brachliegenden Geländen in Berlin findet, wickelt und windet sie solange, bis sie eine für sie stimmige Form haben, die mit dem Stoff korrespondiert. Manchmal wirken die Drähte Form gebend, manchmal ragen sie aber auch wie Antennen aus der Skulptur heraus, als wollten sie den Draht zur Welt erhalten. Die Stofflappen selbst sind mit einer Leimmixtur verhärtet. 

 

Die Seelenschiffe beschreiben den Weg durch das Leben – die dunkelrote Farbe erinnert nicht von ungefähr an Blut, die Form der Schiffe ist bisweilen vor allem bei den älteren Modellen an eine Gebärmutter angelehnt als lebend gebendes Organ. Die Formgebenden Stofflappen erinnern in ihrer Weichheit an unsere Haut als äußere Hülle. Teilweise aufgerissen oder zerfetzt, verweisen auf die Stürme im Leben, die Wunden hinterlassen, auf zerrüttete Nervenkostüme aber auch, da wo sie intakt sind, auf eine schützende Umhüllung. Die textile Haut der Schiffe zeigt zugleich unsere Verletzbarkeit, aber auch Geschmeidigkeit, mit der wir uns durchs Leben bewegen. 

 

Da für CLAUDIA HARTWIG das Innere genauso zählt wie das Äußere kann man in ihre Schiffe einblicken – im Laufe der Entwicklung der Serie wurden sie sogar immer durchlässiger. Die jüngeren Arbeiten, die, in ihrer Form und Gestaltung viel freier und abstrakter gehalten sind als die ersten Werke, betitelt CLAUDIA HARTWIG bewusst nicht mehr als „Seelenschiffe“, doch allen ist ihr symbolischer Gehalt gemeinsam: 

Mit ihren Skulpturen beschwört die Künstlerin das Bild einer Reise durch den Fluss des Lebens herauf, der mal von einer Brise getragen, mal von Stürmen durchgerüttelt wird. 

Aber: Solange es einen Faden gibt, an den man anknüpfen kann, geht’s es weiter, wie es die Künstlerin formuliert hat. 

Die Kunst für uns alle besteht dabei darin, die Segel zur richtigen Zeit zu setzen.

 

Patricia Caspari